Jessica Hausner

Jessica Hausner wurde 1972 in Wien geboren. Sie studierte Regie an der Filmakademie Wien, wo sie 1996 ihren ersten Kurzfilm – FLORA –verwirklichte. Mit diesem Film gewann sie den Leopard de Demain (Leoparden von Morgen) bei den Filmfestspielen Locarno. Ihr Diplomfilm INTERVIEW gewann den Prix du Jury der Cinefondation beim Filmfestival Cannes 1999. Zwei Jahre später wurde ihr Film LOVELY RITA ebenfalls in Cannes (Un Certain Regard) präsentiert, bevor er in zahlreiche Länder verkauft wurde. Mit ihrem neuen Film präsentiert Jessica Hausner diesmal ihre eigene Sichtweise eines Thrillers ...

FILMOGRAPHIE

1996 Flora (25’)
Aaton Prize, Locarno 1996
New Cinema Prize, Viennale 1997
Grand Prix Européen, Angers 1999
1999 Inter-View (48’)
Prix Spécial du Jury, Cinéfondation, Cannes 1999
2001 Lovely Rita (80’)
Sélection Officielle, Un Certain Regard, Cannes 2001
Vienna Film Award, Viennale 2001
Prix FIPRESCI, Mention Spéciale, Viennale 2001
2004 Hotel (74’)
Sélection Officielle, Un Certain Regard, Cannes 2004
 

 


Schein und Wirklichkeit

Ich empfinde die Wirklichkeit, die sich mir zeigt, als partiell, bruchstückhaft und unsicher, als ein Puzzle, dessen wichtigste Teile verlorengegangen sind. Wir alle versuchen, die Lücken zu füllen, Zusammenhänge und Erklärungen zu finden.
Und wir trachten danach, der Banalität zu entkommen, indem wir an etwas Höheres glauben wollen, an etwas, das über uns steht, stärker ist, das, selbst wenn wir es nicht verstehen, etwas vor hat mit uns.
Der Film richtet den Blick auf dieses ”darüber hinaus”, dieses nicht fassbare, unbekannte Element, das seine Spuren hinterläßt ohne sich zu zeigen. Als läge unter der Oberfläche unseres Alltags ein unbekannter Masterplan, dem die Ereignisse gehorchen, wir verstehen den Plan zwar nicht, aber dennoch scheint er mächtiger als wir.
Oder gibt es etwa gar keinen solchen Plan?
Wer kann das wissen. Irene geht, es herauszufinden.

 

Ein etwas anderer Thriller

Meine Phantasie und Vorstellungs-kraft sind natürlich von meinem kulturellen Umfeld geprägt. Zu der Zeit, als ich am Drehbuch von HOTEL schrieb, habe ich viele Ge-schichten und Märchen aus Öster-reich gelesen. Die Elemente, die sich auf die germanische Mytho-logie beziehen, hier vor allem der Wald und die ”Waldfrau”, gehören ebenfalls dazu. Sie sind Zeichen, die für etwas dahinter Verborgenes stehen. Hotel handelt auf verschie-dene Weise mit Zeichen. Zum Beispiel die Verwendung des Genres:
Im Genrefilm gibt es bestimmte wiederkehrende Phrasen, die dem Publikum das Gefühl vermitteln, sich auf vertrautem Terrain zu bewegen. In Hotel werden diese Phrasen teilweise benutzt, dennoch will sich kein Gefühl von Sicherheit und Kohärenz einstellen, die ersehnte Enthüllung am Ende bleibt verwehrt.

Für mich stand im Vordergrund, eine gewisse Ambiguität zuzulas-sen. Die Lösung eines Rätsels liegt weder in den übernatürlichen noch in den rationalen Aspekten irgend-eines Ereignisses.

   

   

Geschichten und Schreiben

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einem kleinen Mädchen die Märchen der Gebrüder Grimm vorgelesen, und das Mädchen liebte diese Geschichten. Dabei sind sie sehr brutal - da können schon mal Hälse abgeschnitten oder Hände abgehackt werden - und erinnern uns daran, wie gefährlich die Welt ist. Angst lehrt uns vorsichtig zu sein.

?Auch ich bin von diesen Geschichten fasziniert. Sie erzählen, dass Gut und Böse nebeneinander existieren, dass man einmal Glück haben und gewinnen kann und das nächste mal wieder nicht. In ihrer Brutalität vermitteln sie eine sehr realistische Sicht der Welt. Das Schreiben des Drehbuchs von HOTEL steht in einer recht engen Beziehung zu Märchen, lassen diese doch - wie meine eigenen Skripts - oft eine sehr einfache Struktur erkennen.



Der leiseste Zweifel

Ich habe schon immer ein gespaltenes Verhältnis zu den Filmen von Hitchcock gehabt, was zweifellos darauf beruht, dass der Schlüssel zu seinen Filmen darin liegt, die Psyche seiner Charaktere zu dekodieren. Diese Lösungsideen interessieren mich weniger. Was mich allerdings begeistert, ist die Art und Weise, wie er eine Szene gestaltet und schneidet, er erzeugt eine geheimnisvolle dramatische Spannung, die mit dem Klima, das ich in HOTEL schaffen wollte, korrespondiert. Es gibt eine Szene in “Vertigo”, in der James Stewart und Kim Novak in einem Wald sind. An einer Stelle macht sie ein paar Schritte zurück in den Schatten. Die nächste Einstellung zeigt diese Szene aus der Sicht von James Stewart, der sie nicht mehr sehen kann, bis sie plötzlich wieder auftaucht. Ich finde hier Einstellung und Schnitt faszinierend. Ich stelle mir HOTEL genauso vor, eine Komposition aus seltsamen, unbegreiflichen Augenblicken, in denen Menschen jemanden beobachten oder sich beobachtet fühlen und Worte hören, die sie nicht verstehen. Ich wollte ein Gefühl von Spannung erzeugen, die sich aus dem Stil und dem Schnitt aufbaut, aber nicht von einer konkreten Bedrohung ausgeht und auch nicht durch simples Dekodieren der Motivationen der Charaktere gelöst werden kann.


Die Entstehung des Projekts

Ausgangspunkt war eine Idee für einen Kurzfilm, die ich vor längerer Zeit hatte: eine Frau erhält Drohanrufe am Telefon, bekommt Angst und ergreift verschiedene Maßnahmen, um sich zu schützen, während sie gleichzeitig versucht, die ganze Angelegenheit zu verdrängen. Sie spürt also den kalten Hauch der Endlichkeit ihres Daseins, gleichzeitig kann sie nicht wahr haben, dass ihr Leben tatsächlich in Gefahr ist. Sie glaubt weiter, alles wird so bleiben wie bisher. Am Ende wird die Drohung wahr gemacht und das Leben der Frau beendet.

Ich sollte auch eine Erinnerung an meine Kindheit nicht unerwähnt lassen. Als ich klein war, lebte ich in einem Haus, das sehr abgeschieden lag. Meine Eltern und meine Schwester arbeiteten damals sehr viel in ihren jeweiligen Studios. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich lange, dunkle Winternachmittage ganz allein an diesem stillen Ort verbrachte und umherwanderte. Ich habe mich selbst mit einem recht merkwürdigen Spiel unterhalten, einer Art Ritual, das unter anderem darin bestand, am obersten Ende der Treppe das Licht auszuschalten. Danach tastete ich mich im Dunklen die Stiege hinunter in den Vorraum, der ebenfalls nicht beleuchtet war, und von dort weiter zu einer kleinen, fensterlosen Kammer, die als Garderobe diente. In meiner kindlichen Phantasie symbolisierte dieser Raum das Epizentrum der Gefahr und des Bösen. War ich einmal in der Garderobe, musste ich es nur noch bis zum Lichtschalter schaffen, denn die Regel lautete, dass ich nur in dieser weit entfernten Ecke Licht machen durfte. Dieses Spiel versetzte mich immer in einen Zustand äußerster Panik, während es mir gleichzeitig großes Vergnügen bereitete. Es war eine Art Herausforderung, eine prickelnde Mischung aus Sehnsucht und Furcht, die mich mehr als einmal aus meiner Langeweile rettete.


Verborgene Emotionen

Das Mädchen aus LOVELY RITA hatte ebenfalls viele Emotionen, die tief in ihrem Innersten verborgen waren und nicht an die Oberfläche kamen. Psychologisch betrachtet bin ich davon überzeugt, dass es keine Regeln und keine feste Formel gibt, dass die nicht voraussagbaren Phänomene dominieren. Den Menschen ist mit Logik nicht beizukommen, und ich bin auch nicht daran interessiert, eine künstliche Logik zu konstruieren.

Wie oft fragt man sich, was dieser oder jener Mensch sich wohl dabei gedacht haben mag, was er fühlen mag- wie oft versucht man, den anderen zu begreifen, zu erklären, warum jemand wohl so handelt wie er handelt- um festzustellen, dass die menschliche Seele rätselhaft und jeder eine Insel inmitten des Ozean ist. Jeder ist einzeln, so sehr er sich auch sehnt nach der Überschreitung dieser Einsamkeit.



Lösungen und Erklärungen

Ich glaube, dass man im Leben keine Lösungen und Erklärungen erwarten kann. Eines Tages werden wir sterben und noch immer nicht wissen, warum. In vielen Filmen wird der Eindruck erweckt, dass alles irgendwohin führt, dass das Leben in eine bestimmte Richtung verläuft, dass letztlich alles Sinn hat. Daran glaube ich nicht. Es ist allerdings schwierig zu akzeptieren, dass man nicht alle Schlüsselelemente einer Geschichte kennt. Sobald wir das aber als gegeben hinnehmen, erhöht sich das Vergnügen. Wir werden auf diese Weise mit anderen Blickwinkeln vertraut gemacht und mit Aspekten des Lebens konfrontiert, die eine schablonenhafte Erzählstruktur verdecken würde.

Der Tod und das Mädchen

Die konventionelle Geschichte, das heißt eine Geschichte, die dank eines dramatischen Klimax Sinn hat, befriedigt mich nicht, allein schon wegen der Komplexität und Unerklärlichkeit der Welt. In meinen Filmen thematisiere ich lieber das Ungleichgewicht und den Zufall. Ein Ereignis folgt ohne logische Begründung dem nächsten, es kommt zu Brüchen und es gibt keinen wirklichen, logischen Schluss; was so wunderbar begann, endet im Desaster, die Bemühungen eines Menschen tragen Früchte oder waren umsonst, und was wir auch tun, am Ende erwartet uns der Tod. Wir wissen nur nicht, wann, wie und warum das passiert.

Das Ende von HOTEL vermeidet alles Spektakuläre, und auch die Fäden laufen nicht zusammen, weil der Film genau das zu zeigen versucht: dass sich in Wirklichkeit niemals etwas aufklärt. Wenn Irene im Dunkeln verschwindet, ist das zum Teil ihre Entscheidung, zum Teil ihr Schicksal. Der Film dreht sich einerseits um das heftige Verlangen, alles zu verstehen, was uns zum Erforschen der dunklen Seite unserer Existenz inspiriert, andererseits handelt er vom Tod, den niemand wirklich kennt und der unabwendbar, mysteriös und dennoch ganz normal ist.