deen
 
 

Gespräch mit dem regisseur

OKTOBER NOVEMBER erzählt die scheinbar einfache Geschichte eines Vaters und seiner beiden Töchter, die im ehemaligen Gasthof der Familie zusammenkommen. Zugleich widmet sich der Film aber auch komplexen Themen wie dem Sterben und dem Tod. Wie kann eine Filmerzählung solchen existenziellen Fragen gerecht werden?

Den großen Fragen wird man dadurch gerecht, dass man sie mit größtmöglicher Genauigkeit stellt. Das ist ein leidenschaftlicher, lebensbejahender Akt. Allein sich den entscheidenden Fragen des Lebens zu stellen ist bereits versöhnend, kräftigend. Nur das Verdrängen ist pessimistisch. Ich glaube aber, es kommt in einer Geschichte, in der Kunst überhaupt, nicht auf Antworten an – und zwar deshalb nicht, weil die Antworten individuell sind und von jedem einzelnen Zuschauer selbst gegeben werden. Letztlich handelt es sich um Fragen, die nur jenseits des Intellekts beantwortet werden können. Das ist auch die Kraft genau gestellter Fragen: Dass sie der Antwort einen Raum öffnen, der über die Sprache und über das Denken hinausgeht. Wenn man diesen Schritt getan hat, wird das Leben mit diesen, wie Sie sagen, existenziellen Fragen zu etwas sehr Lebendigem. Es vitalisiert sich.

OKTOBER NOVEMBER ist ein sehr präziser Film. Die Dynamik entwickelt sich weniger über die Erzählung, als über die Form. Man hat den Eindruck, dass das, was die Figuren bewegt, vor allem in den Bildern selbst zum Ausdruck kommt.

In den Bildern, in der Form hab ich drei Ziele: erstens so genau wie möglich, zweitens so einfach wie möglich, drittens so intensiv wie möglich zu erzählen. Daraus ergibt sich meine filmische Sprache, die Bilder, der Rhythmus, die Montage. Eine große Herausforderung beim Erzählen ist es ja immer, Intensität, Dichte zu erreichen. OKTOBER NOVEMBER war in dieser Hinsicht kein einfacher Film, weil seine Geschichte vordergründig so wenig Dramatik besitzt. Das sogenannte normale Leben scheint unspektakulär, wenn man Drama und „Spannungsfilme“ gewöhnt ist – die herkömmliche Erzählstruktur im Kino. Um unsere Geschichte intensiv, spannend zu zeigen, muss jeder einzelne Augenblick des Films umso präziser und lebendiger gesetzt sein. Das betrifft das Schauspiel, aber ebenso die Genauigkeit der Form. Die ist ja überhaupt die eigentliche Utopie in der Kunst.

Es gibt in OKTOBER NOVEMBER ein interessantes Verhältnis der Orte zueinander. Einerseits den Unterschied zwischen der Großstadt Berlin und dem österreichischen Dorf. Andererseits dort wiederum eine Spannung zwischen dem Innen und dem Außen: Hier das Zimmer des Vaters, dort die Natur – der See, der Berggipfel mit dem Kreuz –, in die es Sonja treibt.

Ja, das mag ich auch sehr am Film, diese Vielfalt an Orten, an Lebensräumen. All das sind Aspekte der Figuren, die Stadt, das kleine Dorf. Die Enge, die Weite. Straßen und Wälder, Zimmer und Plätze. Der geschlossene und der offene Raum. Das sind alles auch Aspekte unseres Lebens. Und damit auch solche des Erzählens. Eine große Möglichkeit des Kinos ist es ja, dass in ihm Räume und Landschaften mehr sein können als bloße Kulissen für Handlung. Sie können ihre eigene Poesie entfalten, können selbst zur Erzählung werden.

Diese Fluchtorte scheinen eher Teil einer „natürlichen“ Einheit zu sein, die auch die Figuren anstreben.

Zivilisation und Natur sind für mich keine Gegensätze, sondern bedingen und ergänzen einander. Das Land ist im Film ja auch nicht als Idylle dargestellt, genauso wenig wie die Stadt als Sündenpfuhl. Ich versuche, den verschiedenen Räumen und Orten filmisch gerecht zu werden. Das sind Schauplätze einer Geschichte, und damit eben auch poetische Orte. Die Poesie einer Wohnung ist eine andere als die Poesie eines Bergsees. Vielleicht habe ich zunehmend das Bedürfnis, diese verschiedenen Poetiken zu verbinden. Nicht im Gegensatz, sondern als Synthesen.

Die Natur scheint auch der Ort einer Rückkehr in die Erinnerung zu sein, verbunden mit einem Besitzanspruch. Bei ihrer Wanderung zum See meint Sonja etwa zum Arzt: „Das ist meine Bank.“

Das sagt sie ja eher im Scherz oder als Koketterie. Sonja hat sich schon als Kind in ihrer Familie nicht wirklich geborgen gefühlt. So hat sie sich einen Ort – eben diesen Bergsee – als ihren eigentlichen Ort der Kindheit konstruiert und in der Erinnerung bewahrt. Dieser Platz in der Natur ist eine Art mythisches Zuhause für sie.

Die unterschiedlichen Schauplätze werden mitunter auch durch die Sprache der Figuren miteinander verbunden, die im Film eine große Rolle spielt. Wenn Verena etwa von ihrer heimlichen Liebschaft mit dem Arzt nach Hause kommt, sieht man im nächsten Augenblick Sonja in Berlin in der Maske sitzen und ihren Text lernen: „Wir müssen jetzt geduldig sein, und dann müssen wir unsere Liebe nicht mehr verstecken.“

In diesem Fall ist die sprachliche Brücke eher ein Spaß, ein Augenzwinkern des Autors. Die Szene, für die Sonja hier ihren Text probt, war im Übrigen eine der schwierigsten, die ich jemals geschrieben habe: eine große, pathetische Szene in einem durchschnittlichen Fernsehfilm. Das ist ja nicht meine Erzählwelt. Ich wollte sie aber auch nicht bloßstellen, denn das hätte auch die Hauptfigur denunziert. Das hinzukriegen war eine schreckliche Übung. Die Sprache im Film ist jedoch für mich sekundär – was nicht heißt, dass sie unwichtig ist. Dialoge müssen natürlich stimmen und können eine interessante Ergänzung sein, aber nicht mehr. Sprache, Text, Dialoge … sie sollen der Erzählung und den Figuren entsprechen, diese vielleicht auf sprachlicher Ebene ergänzen oder umspielen. In dieser Hinsicht ist mir Sprache im Film wichtig: als ein Umspielen dessen, was filmisch erzählt werden will.
Film hat die große Kraft, eine bildhafte und rhythmische Kunstform zu sein. Das Bild und der Rhythmus sind Dinge, die sich der sprachlichen Beschreibung entziehen, weil sie ja über die Sprache hinausgehen. Das ist das eigentlich Faszinierende am Kino: diese bildhafte, rhythmische Sinnlichkeit und Intelligenz, die den Verstand überschreitet.

Ein wiederkehrendes Motiv Ihrer Filme ist das der Entfremdung. In OKTOBER NOVEMBER werden, wie bereits in ANTARES und REVANCHE, Verhältnisse neu geordnet oder zu Ende gebracht, versuchen Figuren mit sich selbst ins Reine zu kommen. Liegt das daran, dass wir ein Leben führen, das wir gar nicht führen wollen?

Ich würde es nicht Entfremdung nennen, sondern positiv formulieren: Es ist eine Suche nach wirklicher Identität und die Sehnsucht nach einem authentischen Leben. Man könnte auch sagen: die Suche nach Lebendigkeit. Das ist es, was meine Figuren antreibt. Es ist nicht nur ein Leiden an verfehlten Lebensumständen, das wäre ja auch langweilig. Mich interessieren die Sehnsucht und der Kampf um ein richtigeres Leben. Meine Filme sind nicht angetrieben von Kritik an den Verhältnissen, oder am Leben, das irgendwer führt. Das ist immer eine Anmaßung. Es ist auch banal. Ich suche nach jener Energie und Kraft, die es braucht, um gegebene Verhältnisse zu ändern, oder, wenn das nicht geht, sich in diesen zu realisieren.

Geht es dabei auch um eine Form von Wiedergutmachung? In OKTOBER NOVEMBER spielt das Ergreifen einer letzten Möglichkeit eine Rolle, vor allem für den sterbenden Vater. Das ist interessant, weil auch der Titel Ihres vorigen Films, REVANCHE, die Bedeutung einer solchen zweiten Chance in sich trägt.

Das sind Interpretationen, die ich gerne den Zuschauern überlassen möchte. Wiedergutmachung... Das ist mir eigentlich kein wichtiger Begriff. Etwas wieder gutmachen würde bedeuten, dass man es wieder so haben möchte, wie es früher einmal war. Das entspricht nicht meinem Denken. Die Idee der Wiedergutmachung ist mir zu sehr an der Vergangenheit orientiert und zu restaurativ. Gutmachung genügt doch.

Was in Ihren Filmen auffällt, ist eine wechselseitige Abhängigkeit der Figuren voneinander. Oft steht jemand in der Schuld des anderen. „Ich hab mich vielleicht nicht genug bemüht“, meint der Vater in OKTOBER NOVEMBER zu seiner jüngeren Tochter – das ist vielleicht die ehrlichste Entschuldigung, die er vorbringen kann.

(Lacht) Das denke ich schon wieder anders. Ich sehe darin keine Abhängigkeiten. Als ich jung war und das mit dem Denken so angefangen hat, hat mich die Frage der Einsamkeit in hohem Maße beschäftigt, auch schmerzhaft. Ich habe Einsamkeit als eine existenzielle Grundvoraussetzung des Menschen betrachtet. Womit ich ja nicht der Erste war – das ist in Philosophie und Kunst ja ein gängiger Topos. Eine große Befreiung war für mich die Erkenntnis, dass diese Einsamkeit nichts anderes ist als eine Illusion: Eine Illusion nämlich des Denkens und eines Bewusstseins, das davon ausgeht, dass das Ich eine abgeschlossene Einheit bildet. Dieser Glaube an das Individuum macht die Konstruktion und das Gefühl von Einsamkeit erst möglich. Doch ich glaube nicht an das unabhängige, abgeschlossene Ich, sondern daran, dass ich wie jeder Mensch Teil eines immens komplexen Beziehungsgewebes bin. Das hat für mich mehr Wirklichkeit, als mein Ego. Zumindest in meinen klügeren Momenten. Diesem Thema habe ich einen ganzen Film gewidmet, und zwar ANTARES, dessen Ausgangspunkt dieser Grundgedanke war.
Ich erzähle von Figuren, die in Verbindungen stehen, in Beziehungen. Das können vielleicht Abhängigkeiten sein, aber auch Zuwendung, Liebe, Hilfsbereitschaft, vieles, viel Verschiedenes. Ich zeige Figuren, die sich vielleicht als einsam empfinden, aber die Geschichte zeigt hoffentlich darüber hinaus, dass sie sich täuschen. Dass sie in vielfache Beziehungen eingewoben sind und dass darin ihr wirkliches Leben besteht.

Das hat mit Selbsterkenntnis zu tun. Muss man seine Umgebung mit neuen, anderen Augen wahrnehmen, um diesen Schritt zu vollziehen, oder ist die Richtung umgekehrt – verändert sich mit der Selbsterkennung auch das Umfeld?

Sowohl als auch. Eine andere Wahrnehmung bedingt ein anderes Denken, und ein anderes Denken eine andere Wahrnehmung. Letztlich bilden die Wahrnehmung und das Denken – oder das Interpretieren der Wirklichkeit – immer eine Einheit. Das Wort „Theorie“ bedeutet ja eigentlich „Betrachten“, im Denken ist also das Wahrnehmen bereits eingeschlossen. Wenn wir unser Denken verändern, verändern wir auch unsere Wahrnehmung. Wenn sich die Augen öffnen, öffnet sich auch der Verstand.

Inwieweit spielen religiöse Fragen in Ihren Filmen eine Rolle? Die metaphysischen Fragen, die Ihre Filme aufwerfen, sind solche, die sich auch jede Religion stellt. Hat das mit einer „Stille hinter den Dingen“ zu tun, die Sie als Filmemacher interessiert?

Die Stille hinter den Dingen interessiert mich sehr. Was heißt interessiert: sie begeistert mich. Übrigens auch der leere Raum rund um die Dinge. Aber eigentlich sind das nicht religiöse Fragen, sondern grundsätzlich geistige. Religionen geben Antworten, ich erzähle Geschichten und stelle damit Fragen. Insofern ist Religion kein Ausgangspunkt meiner Arbeit. Obwohl ich darauf hoffe, dass für den Zuschauer auch Antworten frei werden, durch den Film, durch unsere Arbeit. Sollten das religiöse Antworten sein, hab ich nichts dagegen.

Ihre Filme werden oft als realistisch beschrieben. Der französische Filmpublizist André Bazin, „Vater“ der Nouvelle Vague, hat einmal gemeint, Realismus sei keine Frage des Themas, sondern des Stils. „Nicht der Schauspieler oder das Geschehen rühren uns, sondern der Sinn, den wir gezwungen sind daraus abzuleiten.“

Ein wunderbarer, ein richtiger Satz. Ich würde ergänzen: Es ist kein Zwang, dass wir daraus Sinn ableiten, sondern es liegt eine Kraft und Qualität darin, dass wir das tun. Mit dem Sinn, den wir ableiten, erweitern wir uns. Ich will auf eine Art und Weise erzählen, die zwar eine persönlich dezidierte Haltung hat, dem Zuschauer aber die Freiheit lässt, mit der empfangenen Energie anzufangen, was er will. Weshalb meine Filme auch sehr unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert werden, was mich im Übrigen freut. Mich langweilt jede Form von Kunst, die eine bestimmte Interpretation aufzwingen will. Sie ist banal, auch wenn sie intellektuell hohes Niveau hat. Eine Kunst, die eine bestimmte Interpretation zwingend in sich trägt, belebt mich nicht, sie beengt. Ich suche die größere Lebendigkeit. Es ist ja die Utopie von Kunst, lebendiger zu machen: durch Versöhnung, durch Erkenntnis, durch Leidenschaft, wodurch auch immer.

Die größere Lebendigkeit erinnert an John Cassavetes …

Einer meiner Schutzgeister.

… der einmal gesagt hat: „Einen Film zu machen bedeutet, die Gefühle und Gedanken eines ganzen Lebens in eine Kapsel zu gießen, und zu hoffen, dass die Zuschauer in diesen zwei Stunden alles vergessen und das Zelluloid ihr Leben verändert.“ Ist auch OKTOBER NOMEBER eine solche Zeitkapsel?

Ein schöner und leidenschaftlicher Satz. Das Großartige an Cassavetes ist ja unter anderem die Leidenschaft, mit der er Filme gemacht hat. Es ist ein gutes Bild: der Film als ein Energieträger, mit geistiger, emotionaler, handwerklicher Energie, die man als Filmemacher in ihn hineingelegt hat – eine Energie, die vom Zuschauer dann wiederum freigesetzt werden kann. Etwas bescheidener als Cassavetes hoffe ich, dass der Film das Leben der Zuschauer bereichert. Verändern – das muss gar nicht sein. Wobei: jede Bereicherung ist bereits eine Veränderung. Also ja. Recht hat er.