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PRESSESTIMMEN

Götz Spielmann und OKTOBER NOVEMBER: Vom Spüren der Wahrheit


wienerzeitung.at, 6. November 2013
Matthias Greuling

Es gibt nur wenige Filmemacher, die mit großer Präzision und dramaturgischer Stilsicherheit von den ganz großen Themen des Lebens erzählen können, ohne dabei allzu essayistisch oder theoretisch zu sein, oder gar metaphernschwangere Sinnbilder zu bemühen: Götz Spielmann ist einer dieser Filmautoren, die unter der scheinbaren Schlichtheit von Geschichten große Landvermessungen vornehmen können und dabei die existenziellen Fragen des Menschseins freilegen. Sein Kino drängt sich dem Zuschauer allerdings nicht auf; man muss schon zulassen, dass Spielmanns Filme etwas mit einem anstellen.

Seine neue Arbeit OKTOBER NOVEMBER ist in dieser Hinsicht eine Fortschreibung der Vorgängerfilme, des oscarnominierten „Revanche“ und auch von „Antares“. Diesmal aber verstricken sich die Protagonisten nicht in kriminelle Machenschaften wie in „Revanche“, und auch die Plattenbauten der Großstadt als Illustration menschlichen Zusammenlebens wie in „Antares“ benötigt Spielmann nicht. Er verlegt seine Geschichte aufs Land, ins tiefste Niederösterreich, wo in einem kleinen Dorf ein alternder Patriarch (Peter Simonischek) ein Wirtshaus führt. Seine Tochter Verena (Ursula Strauss) ist zeitlebens bei ihm geblieben, und ging ihm zur Hand, als die Mutter bei einem Unfall starb. Ihre Schwester Sonja (Nora von Waldstätten) hat hingegen Landflucht betrieben. Sie erwählte sich die (Schein-)Welt des Fernsehens: In Berlin steht sie als Darstellerin von TV-Movies vor der Kamera. Als der Vater einen Herzanfall hat, eilt Sonja herbei; an seinem späteren Totenbett ist die Familie nach langer Zeit wieder vereint, jedoch nicht in Harmonie: Alte Konflikte brechen auf, die bewältigt werden wollen. Es geht um Wahrheiten, und um die Frage, wie man sie findet.

OKTOBER NOVEMBER ist ein herausragend gespieltes Psychogramm der Seele einer Familie, wie es treffender nicht beschrieben sein kann: Die Ambivalenzen zwischen dem Wunsch nach familiärer Nähe und dem Ausbruch aus der dörflichen Enge, zwischen Gehorsam und Selbstentfaltung, zwischen Unterordnung und Freiheit arbeitet Spielmann mit scheinbarer Mühelosigkeit heraus.

Die schlichten, aber wirkungsvollen Bilder von Kameramann Martin Gschlacht zeigen kein ländliches Idyll, sondern platzieren die Figuren in einer herbstlichen Landschaft voller emotionaler Widersprüche: Die welkenden Blätter und die letzten Sonnentage kündigen an, wohin der Film steuert: Das sterbende Familienoberhaupt verursacht bei seinen Töchtern die scheinbar erste ernste Auseinandersetzung mit lange unterdrückten Gefühlen und mit einer schmerzhaften Selbstreflexion über eigene Versäumnisse. Wenn in der zweiten Filmhälfte das quälend langsame Sterben des Vaters beginnt, entwickelt sich die wachsende Agonie aller Beteiligten zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit familiären Banden und Zusammenhalt, mit Verdrängung und mit dem Tod.

Spielmanns Kunststück besteht nun darin, diese Auseinandersetzungen nicht zu intellektualisieren, sondern sie fühlbar werden zu lassen. Wer sich emotional auf diesen Film einlässt, wird reich belohnt, auch, wenn die Gefühle mitunter heftig sind und nahe gehen: Man empfindet dann wie die Figuren in diesem Film, die für sich herausgefunden haben: Die Wahrheit kann man nicht wissen, man kann sie nur spüren.